ATTRAKTIVE STADT, REGIONALES ZENTRUM, NATIONALER WAFFENPLATZ
Anna Bähler, Christian Lüthi1860–1914: Eisenbahn- und Industriezeitalter
1859 schloss die Eisenbahnlinie die Stadt Thun von Bern her an das internationale Bahnnetz an. Mit der neu geschaffenen Möglichkeit, Waren und Personen schnell und sicher über grössere Distanzen zu transportieren, verschoben sich die Standorte der Produktion und damit die Arbeitsorte vieler Menschen. Die grössten Städte und Knotenpunkte des Eisenbahnnetzes profitierten am stärksten; hier entstanden viele neue Arbeitsplätze. Thun avancierte innert weniger Jahrzehnte zur Drehscheibe im regionalen Verkehr, dank der Nähe zu Bern war die Stadt schnell erreichbar. In der Folge gründete der Bund 1863 in Thun die Munitionsfabrik und die Konstruktionswerkstätte, die sich innert weniger Jahre zu den grössten Industriebetrieben der Stadt entwickelten. Die Armee verstärkte dadurch ihren grossen Einfluss auf die Thuner Wirtschaft und Gesellschaft. Um 1900 stellten die Rüstungsbetriebe drei Viertel der hiesigen Fabrikarbeitsplätze. Viele Arbeiter wohnten aber nicht in der Stadt Thun, sondern in der damals noch selbständigen Gemeinde Strättligen und in anderen Nachbargemeinden. In den 1890er-Jahren entstanden die Firmen Hoffmann und Selve als wichtige Zulieferer für die beiden Bundesbetriebe.
An seinem 67. Geburtstag posiert der Strättliger Ernst Straubhaar an seinem Arbeitsplatz im Gaswerk Thun 1910 für den Fotografen.
Weil es damals noch keine Altersvorsorge gab, konnten sich viele Menschen im Alter nicht zur Ruhe setzen. Sie arbeiteten, so lange die Kräfte es ihnen erlaubten.
Die Eisenbahn verschob das Zentrum des Oberländer Tourismus ab 1860 nach Interlaken und in höher gelegene Bergdörfer wie Grindelwald, Wengen, Adelboden oder Gstaad. Obwohl mit dem Thunerhof und dem Beau-Rivage nach 1870 weitere Hotels in Thun gebaut wurden, stagnierte dieser Wirtschaftszweig und geriet ab dem Ersten Weltkrieg endgültig in eine Krise. Nach 1900 versuchte sich die Gemeinde Goldiwil als Wintersportort zu profilieren, vermochte aber trotz anfänglichem Erfolg nicht im gleichen Ausmass Gäste anzuziehen wie die Tourismusorte in den Bergtälern. Der Kontakt mit den Feriengästen verstärkte jedoch den Trend zur Ausübung neuer Sportarten wie Velofahren, Tennis oder Fussball. Das kulturelle Leben erfuhr ebenfalls einen Aufschwung: Getragen vom Einwohnerverein, eröffnete das Schlossmuseum Thun 1888 seinen Betrieb und neben den schon bestehenden Musikvereinen entstanden weitere Chöre und Orchester. Für Theaterabende und ab 1900 auch für regelmässige Filmvorführungen sorgten die Besitzer der grösseren Gasthöfe, in denen sich geeignete Säle befanden.
Die Thuner Burger verloren gegenüber den Einwohnern allmählich an Einfluss. Weil das Bevölkerungswachstum der Stadt durch Zuziehende geprägt war, verloren sie zunehmend an Bedeutung. 1850 machten die Angehörigen der Burgerfamilien ein Viertel der Bevölkerung aus, 1910 noch ein Zwölftel. Trotzdem blieben sie in den politischen Behörden bis Ende des 19. Jahrhunderts übervertreten. Mit der Güterausscheidung zwischen der Einwohner- und der Burgergemeinde verloren die Burger 1862 einen Teil ihres Vermögens. Zudem schwächte sich die Burgergemeinde selber, als sie einen grossen Teil ihrer Ressourcen 1869–1875 in den Bau des Hotels Thunerhof investierte, das nach wenigen Jahren Konkurs ging. 1866 lösten sich die Zünfte auf und gründeten mit ihrem Kapital die Spar- und Leihkasse Thun, was sich positiv auf die lokale Wirtschaft auswirkte. Gleichzeitig stammte aber keiner der Gründer der grossen Industriefirmen aus Thun oder dem Thuner Bürgertum. Die Initiative ging von Zugezogenen aus.
Die Postkarte zeigt den Markt im Bälliz an der Wende zum 20. Jahrhundert. Repräsentative Geschäfts- und Wohnhäuser säumen die breite Strasse. Diese ist, im Gegensatz zum Trottoir, noch ungepflästert. Die Händler brachten ihre Ware mit Handwagen oder Fuhrwerken, die rechts am Strassenrand parkiert sind, in die Stadt. Die Hausfrauen und Dienstmädchen sind mit Einkaufskörben unterwegs.
Die Phase nach der Entstehung des Bundesstaates 1848 und dem Eisenbahnbau war die Blütezeit des Freisinns mit seinen verschiedenen Strömungen. Diese politische Gruppe dominierte in der Schweiz wie auch in Thun die Behörden und die lokale Politik bis zum Ersten Weltkrieg. Mit dem Aufkommen der Industrie erstarkte am Ende des 19. Jahrhunderts auch die Arbeiterschaft, die sich in Gewerkschaften und in der Sozialdemokratischen Partei organisierte und 1897 die Arbeiter-Union Thun gründete. Im Gegensatz zu den herkömmlichen politischen Strömungen integrierte die Arbeiterbewegung von Beginn weg auch Frauen. In Thun marschierten schon 1898 am Festzug zum 1. Mai neben 300 Arbeitern 20 Frauen mit.2
1860–1910 verdoppelte sich die Bevölkerungszahl der Stadt. Dieses Wachstum löste aber keinen Boom im Wohnungsbau aus. Deshalb verknappte sich in Thun der Wohnraum, während gleichzeitig in den stadtnahen Gebieten der Gemeinde Strättligen erste Arbeiterhäuser entstanden. Obwohl die städtebauliche Gestaltung minim war und die öffentliche Hand nur wenige repräsentative Bauten realisierte, veränderte sich vor allem das verkehrstechnisch gut gelegene Bälliz massiv. Die noch 1860 eher spärlich überbaute Aareinsel erlebte einen Bauboom und stieg zum neuen Geschäftszentrum der Stadt auf. Bund, Industrie und Gewerbe sowie die Hotellerie waren damals bei Neubauten in der Stadt Thun die wichtigsten Akteure.
Der Laden des Konsumvereins an der Allmendingenstrasse um 1920. Im Jahr 1899 gründeten 36 Männer die Konsumgenossenschaft Allmendingen, die 1916 mit den Schwesterorganisationen aus Thun und Steffisburg fusionierte.
Diese Selbsthilfeorganisation verkaufte Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs zu günstigen Preisen und gab die Gewinne an ihre Mitglieder weiter. Im Verkaufslokal nebenan bot Johann Krebs «Gross- und Kleinbackwaren» an.
Auf den Strassen erschienen mit dem Velo und dem Auto die ersten modernen Verkehrsmittel, was aber noch kaum Auswirkungen auf den Strassenbau hatte. Nur ein kleiner Teil der Strassen war gepflästert, selbst viele Gassen der Innenstadt wiesen einen Kiesbelag auf. Mit dem unterirdischen Bau der Versorgungsnetze begann die Stadt dagegen vergleichsweise früh: 1862 für Gas, 1870 für Wasser, 1896 für Elektrizität. Erste Abwasserkanäle bestanden ab 1870. Der Bau der Versorgungsnetze und die Platznot der wachsenden Stadt führten 1913 und 1920 zur Eingliederung der Nachbargemeinden Goldiwil und Strättligen, die schon im Ancien Régime zur Kirchgemeinde Thun gehört hatten. Auch durch Personen, die über die Gemeindegrenzen hinweg zur Arbeit gingen, bestanden enge Verbindungen zwischen den drei Gemeinden. Die Fusion war deshalb der logische Schritt, um die mit dem Stadtwachstum verbundenen Probleme in einem grösseren Rahmen anzugehen.