Die kolorierte Aquatinta aus dem Jahr 1827 von Johann Jakob Wetzel (1781–1834) zeigt auf der linken Seite das Kleist-Haus auf der Oberen Aareinsel. Das Haus musste 1940 wegen Baufälligkeit abgebrochen werden. An seiner Stelle erinnert eine beim Schifffahrtskanal angebrachte Gedenktafel an Kleists Aufenthalte in Thun.
Heinrich von Kleist auf der Thuner Aareinsel (1802/03)
Jon Keller«Jetzt leb ich auf einer Insel in der Aare, am Ausfluss des Thunersees, recht eingeschlossen von Alpen, 1⁄4 Meile von der Stadt. Ein kleines Häuschen an der Spitze, das wegen seiner Entlegenheit sehr wohlfeil war, habe ich für sechs Monate gemietet», das schrieb der Dichter Heinrich von Kleist (1777– 1811) am 1. Mai 1802 von Thun aus an seine Schwester Ulrike. Die Monate Mai und Juni des Jahres 1802 und einige Tage anno 1803 verbrachte Kleist auf der Oberen Aareinsel, die heute offiziell Kleist-Inseli heisst.
Kleist beabsichtigte damals, sich in der Schweiz niederzulassen und einen Landwirtschaftsbetrieb mit diversen Angestellten zu betreiben. So besichtigte er ein entsprechendes Objekt im Gwatt am Thunersee. Die Unsicherheit der damaligen politischen Lage – napoleonische Truppen waren in der Schweiz stationiert – liessen Kleist jedoch davon absehen, sich dauerhaft hier niederzulassen. In einem Brief schrieb er im Mai 1802: «Es ist fast so gut wie ausgemacht, dass dies unglückliche Land auf irgend eine Art ein Opfer der französischen Brutalität wird.»
Als Haushälterin diente Kleist eine junge Frau namens Mädeli, wie der Dichter im oben erwähnten Brief an seine Schwester Ulrike festhielt: «Ein freundlich-liebliches Mädchen, das sich ausnimmt, wie ihr Taufname: Mädeli. Mit der Sonne stehn wir auf, sie pflanzt mir Blumen in den Garten, bereitet mir die Küche, während ich arbeite für die Rückkehr zu Euch; dann essen wir zusammen; sonntags zieht sie ihre schöne Schwyzertracht an, ein Geschenk von mir, wir schiffen uns über, sie geht in die Kirche nach Thun, ich besteige das Schreckhorn, und nach der Andacht kehren wir beide zurück. Weiter weiss ich von der ganzen Welt nichts mehr.» Wer dieses Mädeli war, kann nicht mehr eruiert werden. Drei Personen kommen in Frage, aber urkundlich sind keine gesicherten Angaben vorhanden.
Der Aufenthalt in Thun 1802 war für Kleist eine Phase intensiven dichterischen Schaffens. Er befasste sich mit der Fertigstellung des Trauerspiels «Die Familie Schroffenstein», er konzipierte und arbeitete am Lustspiel «Der zerbrochne Krug», und er begann, sich unter grossen Mühen mit dem Stoff «Robert Guiskard» auseinanderzusetzen und erste Teile niederzuschreiben. Leider sind nur Fragmente des «Guiskards» erhalten geblieben.36

