Kultur und Politik – ein Fazit
Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein überliess die Stadt die kulturellen Bestrebungen möglichst den Kulturvereinen und unterstützte sie gegebenenfalls durch finanzielle Beiträge oder Leistungen der Verwaltung. In den 1960er-Jahren blühte das Thuner Kulturleben etwas auf: Der Männer- und der Frauenchor, der Cäcilienverein und das Stadtorchester sorgten für einen hochstehenden, klassischen Musikgenuss, und der Verein Schlosskonzerte Thun veranstaltete ab 1968 Konzerte von klassischer Kammermusik bis zu Jazz im Rittersaal.68 Wer den Weg nach Steffisburg nicht scheute, konnte dort Gastspiele von exzellenten Theaterensembles erleben; in der Altstadt pflegte das Keller Theater das junge Pflänzchen der Kleinkunst und verwandelte sich gelegentlich in einen Jazzkeller. Die städtische Kunstkommission sorgte für den Ankauf von Kunstwerken und präsentierte sie im Thunerhof. Das Bildungsbürgertum kam also in Bezug auf seine kulturellen Bedürfnisse durchaus auf seine Rechnung.
Wer sich aber in Thun für nicht etablierte, lautere Kunstformen wie Performance Art oder Rockmusik interessierte, für den herrschte in der Stadt lange eine kulturelle Ödnis. Junge kreative Köpfe hatten Mühe, geeignete und be- zahlbare Ateliers oder Übungsräume zu finden, wo sie ihre Ideen verwirklichen konnten. Veranstaltungen, die dem Geschmack der Jugendlichen entgegenkamen, gab es nur selten. In den 1970er-Jahren kam langsam Fahrt auf in der Musikszene: 1972 trat die Mundart-Rockband Rumpelstilz mit grossem Erfolg im Keller Theater auf, und das Jugendhaus organisierte Konzerte mit angesagten Bands, wie 1973 den Auftritt der Berner Rockgruppe Grünspan. Legendär ist das Chanson-Open-Air-Konzert, das 1975 auf dem Rathausplatz stattfand. Dem Publikum blieb weniger das Programm in Erinnerung als vielmehr die Eintrittskarten in der Gestalt von aufblasbaren Kissen – sie platzten allesamt im Lauf des Abends mit einem lauten Knall.69
Zu einem spartenübergreifenden Aufbruch kam es in Thun erst in der Mitte der 1980er-Jahre. Dabei waren drei Faktoren entscheidend: Erstens lehnten sich seit einigen Jahren in Städten wie Bologna, Amsterdam, Berlin und Zürich, aber auch im nahen Bern die Jugendlichen gegen die gesellschaftlichen Strukturen und die etablierten Kunstformen auf, die sie als verkrustet und einengend empfanden. Sie forderten Räume für eine eigenständige, innovative Entfaltung. Diese Protestwelle beeinflusste die jungen Künstlerinnen und Künstler in Kleinstädten wie Biel, Olten, Baden oder eben Thun.70 Zweitens entstanden auch in Thun durch die Deindustrialisierung Freiräume und damit Orte, wo sich Kulturschaffende und Eventveranstalter einnisten und an der Umsetzung ihrer Ideen arbeiten konnten. Ebenso wichtig war drittens das Verhalten der Thuner Stadtregierung. Sie lehnte die kulturellen Initiativen nicht von vornherein ab, sondern begegnete ihnen häufig mit Wohlwollen, trotz des Risikos, das sie damit einging. Beispielsweise tolerierte sie Ende 1987 das ille- gale Rockkonzert in der Mühle, weil es friedlich verlief. Dies brachte ihr nachträglich scharfe Kritik ein: So fragte ein früherer Polizeikommandant in einem offenen Brief im «Thuner Tagblatt», ob die Stadt nun dem Faustrecht entgegengehe.71 Trotzdem duldeten es die Stadtbehörden in der Regel auch weiterhin, dass Kulturschaffende oder Betreiber von Musiklokalen und ihr Publikum die Grenzen der Legalität immer wieder ausreizten.
Dank dieser grossherzigen Politik, dem weiteren Ausbau auch der klassischen Kultursparten und der Förderung der Kleinkunst etablierte sich in der Stadt eine vielfältige Kunstszene, deren Ausstrahlung weit über die Region hinausreicht. Entscheidend dabei war, dass in der Verwaltung eine Kulturabteilung aufgebaut wurde. Dies ermöglichte die Erarbeitung einer Kulturstrategie und somit eine professionelle Kulturförderung. Schon 1981 hatte die Stadt erstmals den Grossen Kulturpreis für kulturelle Leistungen von überregionaler Bedeutung vergeben, 1993 kam der Kulturstreuer hinzu, ein Preis, der ausserordentliche Leistungen in der Kulturvermittlung oder Kulturförderung auszeichnet. Seit 1999 verleiht die Stadt zudem jedes Jahr mehrere Spartenpreise in den Bereichen Kunst, Theater und Musik. Ausserdem vergibt sie ein Stipendium für einen sechsmonatigen Aufenthalt im Künstler-Wohnatelier in Berlin, welches Thun gemeinsam mit den Städten St.Gallen, Winterthur und dem Kanton Bern unterhält.72 2008 monierte der Thuner Künstler Martin Lüthi (geb. 1965) alias Heinrich Gartentor, der Austausch sei leider nur einseitig: «Es braucht dringend Ateliers für ausländische Gäste in Thun. Es braucht die Kunstmacherinnen und -macher aus der Fremde, es braucht Raum für die neuen Goethes, Kleists und Brahms, welche in Thun sein und arbeiten wollen – und welche den guten Ruf Thuns in die Welt tragen. Es braucht sie, weil Thun inspirierend ist und hier wichtige Werke für die Zukunft entstehen können.»73
