Evangelikale Freikirchen und Sondergemeinschaften
In der Region Thun waren seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert Einzelpersonen und religiöse Gruppen aktiv, deren Frömmigkeit von der Inspiration und Erweckung durch Gott geprägt war. Sie wurden zum Teil von der Obrigkeit verfolgt, wie die gebürtige Thunerin Ursula Meyer (1682–1743), die inspirierte Reden hielt und in frommen Kreisen als Prophetin galt. Andere hingegen arrangierten sich mit der Obrigkeit, wie Samuel Lutz (1674–1750), der 1726–1738 Pfarrer von Amsoldingen war. Er beeinflusste mit seinen pietistischen Schriften auch spätere Erweckungsbewegungen. Die Gemeinschaft der Heimberger Brüder, die um 1745 in Thun auftauchte, hatte wenig Konflikte mit der Obrigkeit, denn ihre Mitglieder hielten zwar verpönte religiöse Treffen in Privathäusern ab, besuchten aber gewissenhaft auch die kirchlichen Gottesdienste. Auf Konfrontationskurs mit der Staatsmacht ging der Schüpfheimer Anton Unternährer (1759–1824), der ab 1799 in Amsoldingen als Wundarzt tätig war und sich als neuer Messias definierte. Er predigte die Frauen-, Kinder- und Gütergemeinschaft, die freie Sexualität unter Glaubensgeschwistern sowie die Ablehnung der Gesetze, der Kirche und der Schulbildung, und er erwartete das baldige Ende der Welt. In der Kirchgemeinde Thun scharte er eine Anhängerschaft von bis zu 60 Personen um sich. Trotz der Glaubens- und Gewissensfreiheit in der Helvetik nahmen ihn die Berner Behörden 1802 als Unruhestifter fest und spedierten ihn drei Jahre später in seinen Heimatkanton Luzern zurück.79
Mit der endgültigen Einführung der Gewissens- und Religionsfreiheit durch die Kantonsverfassung von 1831 wurde die Wahl der Religion zu einer persönlichen Angelegenheit. Schon ab 1818 bildeten sich verschiedene religiö- se Gemeinschaften, die pietistisches Gedankengut wiederaufnahmen und beeinflusst waren durch die Westschweizer Erweckungsbewegung, den sogenannten «Réveil». 1831 entstand die Evangelische Gesellschaft des Kantons Bern, die bald auch in Thun vertreten war und die bibeltreuen Strömungen innerhalb der reformierten Kirche sammelte. Andere Gruppen trennten sich von der Kirche, weil ihnen die hier praktizierte Theologie zu liberal war. Die erste staatsunabhängige Freikirche in Thun war die Freie Evangelische Gemeinde, die Karl von Roth (1803–1861), Leiter der Freien Evangelischen Gemeinde der Stadt Bern, 1836 gründete. Eine weitere Freikirche wurde von angloamerikanischen Erweckungsbewegungen beeinflusst: 1867 hielten Missionare der methodistischen Evangelischen Gemeinschaft aus den USA Vorträge in Thun. In der Folge entstand auch hier eine Evangelische Gemeinschaft, aus der die heutige Evangelisch-methodistische Kirche Thun hervorging.80
Im Lauf des 20. Jahrhunderts siedelten sich weitere Religionsgemeinschaften an: 1901 gründete die Heilsarmee, die seit den 1880er-Jahren in der Schweiz aktiv war, ein Korps in Thun. Die «Erste Kirche Christi, Wissenschafter» hielt ab 1918 Gottesdienste an der Niesenstrasse ab und eröffnete 1969 eine Kirche im Seefeld; die Neuapostolische Kirche gründete 1911 eine Thuner Gemeinde und baute 1956/57 eine Kirche an der Pestalozzistrasse; die christlich-soziale Volksmission besass ab 1923 einen Thuner Ableger, der sich 1955 der Pilgermission St. Chrischona anschloss. In der Tradition der Pfingstbewegung, die das Wirken des Heiligen Geistes betont und sich im 20. Jahrhundert weltweit innerhalb und ausserhalb der traditionellen Kirchen verbreitete, standen die Urchristen, die 1949 in Thun eine Gemeinde gründeten. Schon 1918 formierte sich in Goldiwil eine Hausgemeinschaft, die sich zur Pfingstmission Thun entwickelte und 1977 die Andreas-Kapelle an der Frutigenstrasse eröffnete. Ebenfalls in der Stadt vertreten sind unter anderen die Freie Missionsgemein- de, die sich 1967 vom Evangelischen Brüderverein abspaltete, und die Christliche Gemeinschaft, die im Zug der sogenannten Charismatischen Welle in den 1960er-Jahren entstand.
Manche dieser Freikirchen definieren sich als Teil einer weltweiten christlichen Gemeinschaft evangelikaler Prägung. In Thun begegnen sie sich seit 1906 unter dem Dach der Evangelischen Allianz Region Thun. Die Evangelisch-methodistische Kirche und die Heilsarmee traten zudem 2007 der damals neu gegründeten Arbeitsgemeinschaft der Kirchen in Thun (AKiT) bei, der auch die christkatholische, die römisch-katholische, die evangelisch-reformierte und die evangelisch-lutherische Kirche angehören. Die AKiT setzt sich für die ökumenische Zusammenarbeit und den Dialog mit andern Religionen und christlichen Gruppierungen in der Region ein.81
