Parteienbildung um 1900
Die Parteienlandschaft, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert zu formieren begann, prägte die Politik bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Im Kanton Bern dominierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Freisinn. Er verstand sich als massgebende Vertretung des politischen Liberalismus und hegte den Anspruch, die Interessen unterschiedlicher Gruppen zu vertreten, so auch des Gewerbes und der Bauern. Über den Grütliverein standen ihm zeitweise auch Teile der Arbeiterschaft nahe. 1894 erhielten die Kantonalparteien mit der Konstituierung der Freisinnig-Demokratischen Partei der Schweiz (FDP) eine Dachorganisation. Die Thuner Freisinnigen beschlossen in den 1880er-Jahren, sich als Sektion des Vereins der Freisinnigen des Kantons Bern neu zu organisieren. Im April 1911 erfolgte die Konstituierung der Freisinnig-demokratischen Partei von Thun.38
Die Arbeiterschaft bildete ab den 1880er-Jahren die Arbeiterunionen als Dachorganisationen der Arbeitervereine, zwischen 1900 und 1914 die wichtigste Organisationsform der schweizerischen Arbeiterbewegung. 1888 wurde in der Schweiz die Sozialdemokratische Partei (SP) gegründet, die bernische Kantonalpartei entstand im Mai 1905. Sie verfolgte eine klassenkämpferische Politik. Das Bürgertum grenzte sich in der Folge verstärkt von der Linken ab. Die Thuner Linke etablierte sich 1897 als politischer Faktor mit der definitiven Gründung der Arbeiterunion. Die erste lokale Organisation der Sozialdemokraten, die Sozialdemokratische Mitgliedschaft, ging aus dem allgemeinen Arbeiterverein Thun hervor. Dieser Arbeiterverein war zusammen mit gewerkschaftlich ausgerichteten Organisationen wie der Metallarbeitergewerkschaft und dem Grütliverein Teil der Arbeiterunion Thun – der Grütliverein schied 1916 aus.
Die Union führte die gewerkschaftlichen und die politischen Geschäfte, wie es auch anderswo Praxis war. 1898 beteiligte sie sich erstmals an Wahlen. Der Freisinn unterstützte die Arbeiterschaft zunächst darin. Gönnerhaft rief der freisinnige «Tägliche Anzeiger» 1901 dazu auf, «auch einem waschechten ‹Arbeiter›» die Stimme zu geben, selbst wenn dieser «mit einem Tropfen sozialdemokratischen Oeles gesalbt» sei.39 1909 repräsentierten drei Vertreter die Arbeiterschaft im 13-köpfigen Gemeinderat. In den 1910er-Jahren übernahm die Sozialdemokratische Mitgliedschaft innerhalb der Thuner Arbeiterschaft die politische Führung, die Union konzentrierte sich fortan auf gewerkschaftliche Fragen.
Im Ersten Weltkrieg entfremdeten sich im Kanton Bern Gewerbe und Bauern zunehmend vom Freisinn, was im September 1918 in der Gründung der konservativen Bauern- und Bürgerpartei mündete. 1921 benannte sich die neue Gruppierung in Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) und 1971 in Schweizerische Volkspartei (SVP) um. Schon im Jahr 1919 eroberte sie im Kanton Bern bei den Nationalratswahlen 46 Prozent aller Stimmen und stieg zur stärksten Kraft im Kanton auf. In Thun entstanden 1919 die Bauern- und Bürgerpartei Thun-Goldiwil und 1920 die Gewerbe- und Bürgerpartei Thun. 1921 fusionierten sie zur Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB). Für den Freisinn war die Abspaltung mit der Schrumpfung seines Anhangs und einer politischen Schwächung verbunden. Nach den ersten Erfolgen seiner neuen Konkurrentin positionierte sich der Freisinn 1919 links von dieser und benannte sich in Fortschrittspartei um, auch in Thun. Aber schon 1922 nahm er in Thun wie auf kantonaler Ebene wieder den alten Namen Freisinnig-Demokratische Partei auf.40
